Versicherungen

05.05.2023

Die Erwerbsminderungsrente – kein Netz für alle Fälle

Die eigene Arbeitskraft ist ein Vermögen wert. Im Laufe eines Berufslebens verdienen Menschen in Deutschland mit einer Berufsausbildung durchschnittlich etwa 1,3 Millionen Euro, mit Hochschulabschluss sogar rund 2,3 Millionen Euro. Doch etwa jeder dritte Arbeiter und jeder vierte Angestellte scheidet vor dem regulären Renteneintrittsalters gesundheitsbedingt aus der Arbeitswelt aus. Durch die Sozialversicherung ist geschützt, wer bestimmte Bedingungen erfüllt, 2019 erhielten knapp 1,82 Millionen Versicherte eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente. Die Rentenhöhe betrug durchschnittlich rund 835 Euro im Monat, ein Großteil der Rentenempfänger liegt unter diesem Wert.

Antragsformular für die Erteilung einer Erwerbsminderungsrente© agenturfotografin - stock.adobe.com
2020 wurden mehr als 42 Prozent der Anträge auf eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente abgelehnt.

Berufsunfähigkeit versus Erwerbsunfähigkeit

Häufig werden Begriffe wie Arbeitsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit und Erwerbsminderung miteinander vermengt. Doch es gibt klare Unterschiede:

  1. Arbeitsunfähigkeit
    Als arbeitsunfähig gilt, wer aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend nicht mehr in der Lage ist, seiner Arbeit nachzugehen. Entscheidend ist also, dass es sich nicht um einen Dauerzustand handelt. Bescheinigt ein Arzt die Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers per Krankschreibung, dann ist davon auszugehen, dass sich der Zustand des Erkrankten in absehbarer Zeit so weit bessert, dass er wieder arbeiten kann. Dabei zahlt der Arbeitgeber das reguläre Gehalt sechs Wochen lang. Danach erhält die erkrankte Person von der Krankenversicherung ein Krankengeld.
     
  2. Berufsunfähigkeit
    Als berufsunfähig gilt, wer aus gesundheitlichen Gründen den zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, voraussichtlich auf die Dauer (ununterbrochen für mindestens sechs Monate) zu mindestens 50 Prozent nicht mehr ausüben kann.
     
  3. Erwerbsunfähigkeit
    Als erwerbsunfähig bzw. erwerbsgemindert gilt, wer aus gesundheitlichen Gründen dem allgemeinen Arbeitsmarkt dauerhaft für weniger als drei Stunden am Tag zur Verfügung steht. Wer zwischen drei und unter sechs Stunden pro Tag einer beliebigen sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen kann, gilt als teil-erwerbsgemindert.  

© VSB

 

Wer hat Anspruch auf Erwerbsminderungsrente (EMR)?

Noch vor Rücken- und Krebserkrankungen sind es vor allem psychische Erkrankungen, wie Depressionen, Burn-out oder eine Suchterkrankung, die Menschen zu einem vorzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben zwingen. Für die Bewilligung einer beantragten Erwerbsminderungsrente prüft die Deutsche Rentenversicherung mit eigenen medizinischen Gutachtern, ob und in welchem Umfang ein Antragsteller noch arbeiten kann. Der Träger der Rentenversicherung zielt hier vor allem auf das verbliebene Leistungsvermögen am allgemeinen Arbeitsmarkt gemäß § 43 SGB VI ab.

Seit einer 2001 in Kraft getretenen Rentenreform spielt insbesondere für Personen, die nach dem 1. Januar 1961 geboren sind, die vorherige Ausbildung, das Einkommen oder der berufsbedingte soziale Status für eine Rente wegen gesundheitlichen Einschränkungen keine Rolle mehr. Das bedeutet, es besteht kein Berufsschutz. Demnach erhält ein Schreiner, der zwar nicht mehr als Handwerker, aber noch als Pförtner arbeiten kann, in der Regel keine Erwerbsminderungsrente.

Neben der theoretisch möglichen Arbeitszeit prüft der Träger der Rentenversicherung eine Reihe weiterer Voraussetzungen, die zusätzlich erfüllt sein müssen, ehe ein Antrag auf EMR bewilligt und eine Rente ausbezahlt wird.

Vier vertragsrechtliche Voraussetzungen für eine gesetzliche EMR:

  1. Mindestversicherungszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung (Wartezeit) von fünf Jahren (60 Monate)
  2. drei Jahre (36 Monate) Pflichtbeiträge in der Rentenversicherung bezahlt
  3. Erwerbsfähigkeit lässt sich durch Reha Maßnahmen nicht (mehr) wiederherstellen
  4. Die Regelaltersgrenze ist noch nicht erreicht

Bei den Mindestversicherungszeiten gelten zum Beispiel Kindererziehungs- oder familiäre Pflegezeiten als Pflichtbeitragszeiten. Die Mindestversicherungszeiten verkürzen sich unter bestimmten Umständen oder entfallen ganz, so beispielsweise, wenn eine Erwerbsminderung aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit, einer Wehrdienst- oder Zivildienstbeschädigung vorliegt.

Erwerbsminderungsrente – voll oder halb?

Aus der nachfolgenden Tabelle 1 lässt sich der Rentenanspruch in Abhängigkeit von der Erwerbsfähigkeit ablesen. Die Höhe der vollen EMR hängt grundsätzlich davon ab, wie viel Versicherte seit ihrem 17. Lebensjahr verdient haben. Der entsprechende Wert lässt sich aus der Renteninformation der Gesetzlichen Rentenversicherung ablesen. Diese erhalten Versicherte jährlich, sobald sie das 27. Lebensjahr vollendet haben. Die Höhe der Teilerwerbsminderungsrente entspricht der Hälfte einer vollen EMR.

Erwerbsfähigkeit (irgendeine Tätigkeit)

Rentenanspruch

Versicherter kann weniger als drei Stunden täglich arbeiten

Volle Rente

Versicherter kann drei bis unter sechs Stunden täglich arbeiten

Halbe Rente

Versicherter kann:

  • sechs Stunden oder mehr täglich irgendeiner Tätigkeit nachgehen

Keine Rente

Tabelle 1 Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund

EMR - Verbesserungen für Neurentner*innen

Zurechnungszeit

Wer früher aus dem Berufsleben ausscheidet, dem fehlen nicht nur viele Jahre bis zum regulären Altersrentenbeginn, sondern auch viele Jahre als Beitragszahler der gesetzlichen Rentenversicherung. Dies gleicht die sogenannte Zurechnungszeit aus. Dabei wird rechnerisch so getan, als ob die Person weitergearbeitet und weiterhin Rentenbeiträge gezahlt hätte. Je länger also die Zurechnungszeit ist, desto besser für die Antragsteller. Bis 2020 gab es mehrere Anpassungen der Zurechnungszeit (vgl. Tabelle 2).

Rentenbeginn

Zurechnungszeit

Bis 30. Juni 2014

bis zum 60. Lebensjahr

Ab 01. Juli 2014

bis zum 62. Lebensjahr

2018

Bis zum 62. Lebensjahr und drei Monate

2019

Bis zum 65. Lebensjahr und acht Monate

2020 bis 2027

Erhöhung um einen Monat p.a.(von 65 Jahre und neun Monate bis 66 Jahre und vier Monate)

2028 bis 2031

Erhöhung um jährlich zwei Monate p. a. (von 66 Jahre und sechs Monate bis 67 Jahre)

Tabelle 2 Quelle: VSB

Seit 2020 bis 2027 steigt die Zurechnungszeit jährlich um einen Monat und ab 2028 jeweils um zwei Monate pro Jahr. Bis der Prozess im Jahr 2031 mit dem Erreichen der regulären Altersgrenze von 67 Jahren abgeschlossen ist. Für Arbeitnehmer, die 2023 einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente stellen, liegt die Zurechnungszeit demnach bei 66 Jahren.

Günstigerprüfung

Dabei prüft die Rentenversicherung, ob die letzten vier Jahre vor der Erwerbsminderung die Rentenhöhe mindern. Ist das der Fall, werden diese bei der Berechnung der Rentenansprüche nicht berücksichtigt. Dadurch wird erreicht, dass krankheitsbedingte Einkommenseinbußen der letzten Jahre (Teilzeit, Verzicht auf Überstunden etc.) nicht so stark auf die Rentenhöhe durchschlagen. Schließlich ist für deren Berechnung der Durchschnitt des Einkommens seit dem 17. Lebensjahr maßgebend. Von dieser Regelung profitieren alle, die einen neuen Antrag auf Erwerbsminderungsrente stellen, bereits seit dem 1. Juli 2014.

EMR – Verbesserung für Bestandsrentner (Rentenbeginn 2001 bis 2018)

Um Unverhältnismäßigkeiten gegenüber später beginnender Erwerbsminderungsrenten etwas auszugleichen, erhalten alle Personen mit Rentenbeginn in der Zeit von 2001 bis 2018 ab Juli 2024 einen pauschalen Zuschlag zu ihrer Erwerbsminderungsrente. Grundlage für die Berechnung des Zuschlags sind die persönlichen Entgeltpunkte, die der am 30. Juni 2024 beanspruchten Rente zugrunde liegen. Abhängig vom Beginn der Rente fällt der Zuschlag unterschiedlich hoch aus.

  • Rentenbeginn zwischen Januar 2001 und Juni 2014: Zuschlag in Höhe von 7,5 Prozent
  • Rentenbeginn zwischen Juli 2014 und Dezember 2018: Zuschlag in Höhe von 4,5 Prozent

EMR – Rentenabschläge bis zu 10,8 Prozent

Renten, die vorzeitig bezogen werden, unterliegen Rentenabschlägen. Das sind Abzüge von der Rente, die sich durch den sogenannten Zugangsfaktor als Teil der Rentenformel ausdrücken. Für jeden Monat, den die Erwerbsminderungsrente vorzeitig beginnt, werden 0,3 Prozent abgezogen, höchstens jedoch 10,8 Prozent. Die Altersgrenze, ab der es als Neurentner eine ungekürzte Erwerbsminderungsrente gibt, liegt 2023 bei 64 Jahren und zehn Monaten und 2024 dann bei 65 Jahren.

Das Durchschnittsalter der Antragsteller auf Erwerbsminderungsrente liegt zurzeit bei rund 53 Jahren. Dies bedeutet, dass sich die Erwerbsminderungsrente in der Regel durch Abschläge um bis zu 10,8 Prozent kürzt. Abschläge sind unter bestimmten Umständen durch finanzielle Zuzahlungen auszugleichen, hierzu berät gegebenenfalls die Rentenversicherung.

Tipp: Der sogenannte Hinzuverdienstdeckel ist weggefallen, das heißt seit dem 1. Januar 2023 gelten für Erwerbsminderungsrenten deutlich höhere Hinzuverdienstgrenzen als bisher.
Die jährlich anzupassende Hinzuverdienstgrenze liegt 2023 für Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung bei mindestens 35 647,50 Euro jährlich. Und bei Renten wegen voller Erwerbsminderung bei genau 17 823,75 Euro jährlich. Darüber hinaus gehende Verdienste werden teilweise auf die Rente angerechnet.

Vorsicht: Um den Rentenanspruch nicht zu verlieren, darf nur im Rahmen des jeweils festgestellten Restleistungsvermögens, das heißt unter sechs bzw. unter drei Stunden pro Tag, gearbeitet werden.

Zahlreiche Anträge auf Erwerbsminderungsrente werden abgelehnt

Nur Versicherte, die die gesundheitlichen und versicherungsrechtlichen Bedingungen für eine Erwerbsminderungsrente erfüllen, sind letztlich mit einem Antrag erfolgreich. Häufig erhalten Antragsteller nur die halbe EMR oder eine komplette Absage.
Laut Bundesregierung wurden 2020 mehr als 42 Prozent der Anträge auf eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente negativ beschieden.

Wird der Antrag auf EMR abgelehnt oder nur zur Hälfte bewilligt, sollten Versicherte sich beraten lassen und innerhalb eines Monats Widerspruch einlegen. Lehnt der Rentenversicherer den Antrag auf eine Erwerbsminderungsrente dann ein zweites Mal ab, besteht die Möglichkeit, vor dem Sozialgericht zu klagen. Das Gericht bestellt dann meist einen neutralen Gutachter.

Fazit – EMR zwar hilfreich, aber nicht ausreichend

Abschließend lässt sich feststellen, dass die Erwerbsminderungsrente zwar hilft, aber die Ausgaben für den gewohnten Lebensstandard nicht abdeckt. Selbst eine volle Erwerbsunfähigkeitsrente bedeutet für die Versicherten meist erhebliche finanzielle Einbußen, da sie in vielen Fällen nur etwa die Hälfte des zuvor bezogenen Nettoeinkommens beträgt. Wer also zwingend auf sein Arbeitseinkommen angewiesen ist, sollte den Abschluss einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung frühzeitig in Erwägung ziehen.