VSB News
07.06.2024, Debatte mit Landtagsabgeordneten
Das Verbraucherleitbild auf dem Prüfstand
Wie schutzbedürftig sind Verbraucherinnen und Verbraucher? Wie groß ist ihre Akzeptanz für regulatorische Eingriffe durch den Staat? Braucht es ein differenzierteres Verbraucherleitbild als Grundlage für verbraucherpolitische Entscheidungen? Um diese Fragen und die Verbraucherpolitik der Zukunft drehte sich eine lebhafte Debatte mit Abgeordneten des bayerischen Landtags, zu der der Verbraucherschutzverband VerbraucherService Bayern im KDFB e.V. (VSB) am Donnerstag, 6. Juni, ins Literaturhaus in München eingeladen hatte. Anlass ist die Verbraucherschutzministerkonferenz 2024, die vom 12. bis 14 Juni in Regensburg unter bayerischem Vorsitz stattfindet.
In der Runde diskutierten MdL Anna Rasehorn, stv. Fraktionsvorsitzende und verbraucherpolitische Sprecherin der SPD, MdL Markus Saller, verbraucherpolitischer Sprecher der Fraktion Freie Wähler, und MdL Laura Weber, verbraucherpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Eva Traupe, Juristin und Leiterin Verbraucherrecht des VSB sowie Markus Latta, Leiter des VSB-Teams Finanzen und Versicherungen. Dr. Leyla Sedghi, VSB-Leiterin Kommunikation und Digitales, moderierte die Veranstaltung.
Aktuelle Studie zur Verbraucherakzeptanz von Regulierung
Eine wissenschaftliche Einordnung zum Verbraucherleitbild und spannende neue Einblicke in die Verbrauchersicht lieferte in ihrem Impulsvortrag und in der Diskussion Prof. Dr. Jutta Roosen, Leiterin des Lehrstuhls für Marketing und Konsumforschung der Technischen Universität München. Sie stellte aktuelle Studienergebnisse zur Verbraucherakzeptanz von regulatorischen Eingriffen im Bereich Nachhaltigkeit der Ernährung und zu Gesundheitsaspekten vor. Dafür wurden im Oktober 2023 1004 bzw. 1001 Personen befragt.
Die Ergebnisse zeigen, dass etwa zwei Drittel der Befragten Maßnahmen zustimmen, die wenig in die Freiheit des Einzelnen eingreifen. Eher akzeptiert wird demnach die Förderung der Bildung, die Nutzung von Labeln und die Forschungsförderung zur Entwicklung von Lebensmitteln mit guter Ökobilanz und einem Beitrag zur gesunden Ernährung. Kritisch sieht dagegen ein Großteil der Befragten politische Maßnahmen, die die Wahlfreiheit einschränken. Mehr als die Hälfte der Befragten lehnen Maßnahmen ab, die direkt das Angebot einschränken oder die Portionsgrößen reglementieren. Das gilt auch für die Besteuerung.
Das Fazit der Wissenschaftlerin: Einerseits leiden Verbraucherinnen und Verbraucher unter der Informationsflut, der Vielzahl an verschiedenen Produktalternativen und Labeln. Anderseits wissen sie ihre Wahlfreiheit zu schätzen. „Sanftere Maßnahmen stoßen auf mehr Zustimmung“, so Prof. Roosen, „da sie im Fall der Betroffenheit weniger einschränkend sind für die Verbraucher.“
Hier die Video-Aufzeichnung des Live-Streams:
Verbraucherleitbild nicht mehr zeitgemäß
Ihr zufolge gehört das von der EU definierte Verbraucherleitbild auf den Prüfstand. Dies geht von einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher aus, der nur mit den nötigen Kompetenzen ausgerüstet werden muss, um in den Märkten zu bestehen.
Die Verbraucherforschung habe allerdings festgestellt, dass es keinen Durchschnittsverbraucher gibt, sondern Verbrauchergruppen mit unterschiedlichen Schutzbedürfnissen. So täten sich viele Ältere mit digitalen Anwendungen schwer, Jüngere dafür mit Finanzthemen. Menschen mit sprachlichen Einschränkungen erfassen viele Regelungen nicht.
Die Verbraucherpolitik müsse stärker als bisher das Umfeld berücksichtigen, in dem Verbraucher und Verbraucherinnen agieren, so Prof. Roosen. „Die Welt ist deutlich komplexer geworden. Viele Produkte und Dienstleistungen erfordern ganz neue Kenntnisse.“ Die Menschen seien stärker als früher vom Goodwill der anbietenden Firmen abhängig. So habe das Teilen von Daten in der digitalen Welt weitreichendere Konsequenzen als in der realen Welt. Auch sei die Korrektheit von Informationen schwerer zu überprüfen, insbesondere in den sozialen Medien.
Zudem stellten Gesellschaft und Politik neue Anforderungen an die Verbraucher hinsichtlich ihrer Verantwortung für die Transformation zu einer nachhaltigeren Gesellschaft. „Dem Verbraucher wird viel Verantwortung übertragen oder auch aufgebürdet“, so Roosen.
Markus Saller, verbraucherpolitischer Sprecher der Freien Wähler, bricht dagegen eine Lanze für das bestehende Verbraucherleitbild der EU. „Dieses Leitbild ist nach wie vor aktuell und richtig.“ Es solle nicht die Praxis abbilden, sondern ein Ziel sein. „Wir wollen einen informierten Verbraucher, der auf Augenhöhe mit einem Unternehmen kontrahiert“, so Saller. „Wir dürfen das Verbraucherleitbild nicht an Randgruppen ausrichten. Wir müssen uns um diese Gruppen kümmern, aber nicht, indem wir das Verbraucherleitbild neu definieren.“
Dem widerspricht Eva Traupe, Leiterin Verbraucherrecht beim VerbraucherService Bayern. „Der mündige Verbraucher ist ein hehres Ziel. In der Realität ist er es definitiv nicht.“ Die Juristin erlebt täglich in ihrer Beraterpraxis Fälle, in denen Hilfesuchende in großen Schwierigkeiten stecken. „Dann ist der Wunsch nach mehr Schutz durch den Staat sehr groß.“ In dieser Diskrepanz – zwischen Wahlfreiheit und Schutzbedürfnis – bewege sich der Verbraucherschutz.
„Verbraucherschutz ist sehr vielfältig und komplex“, ergänzt Markus Latta, Leiter Finanzen und Versicherungen im Verband. „Wir werden nie den mündigen Verbraucher in der ganzen Breite schaffen können. Sie können nicht in allen Fachgebieten firm sein.“
Auch Anna Rasehorn, SPD, und Laura Weber, Grüne, plädieren dafür, Verbraucherinnen und Verbraucher, die besonders schutzbedürftig seien, stärker in den Fokus zu rücken. Für Weber ist der „richtige Zeitpunkt gekommen“, das Verbraucherleitbild „in dieser unglaublich schnelllebigen Welt anzupassen“.
Im digitalen Bereich sei das Schutzniveau nicht hoch genug, da ist sich die Runde einig. Verbrauchern falle es im Digitalen schwer, Werbung von anderen Beiträgen zu unterscheiden oder Fake News zu erkennen, erklärt Prof. Roosen. „Die Verbraucherbildung muss ganz neue Themen aufgreifen, um diese Kompetenzen zu schulen.“ Dazu zähle auch die digitale Teilhabe der älteren Bevölkerung. Das 49 Euro Ticket nur im Handy, Banken, die nur noch online erreichbar sind – der VerbraucherService Bayern fordert, dass ein analoges Leben auch ohne Smartphone möglich bleiben muss. „Eine ganze Generation fühlt sich abgehängt“, so Traupe.
Mehr Investitionen in Verbraucherschutzverbände
Im Landtagsausschuss für Umwelt und Verbraucherschutz machen sich Rasehorn und Weber unter anderem für den Trinkwasserschutz und die Einführung eines Wassercents auch in Bayern stark. Eine Forderung, die auch der VerbraucherService Bayern stellt. „Trinkwasser ist unser wichtigstes und wertvollstes Lebensmittel und sollte so auch behandelt werden“, erklärt Laura Weber. „Wir müssen wachsam sein und aufpassen“, ergänzt Anna Rasehorn. „Das Allgemeingut Wasser darf nicht auf dem privaten Markt verscherbelt werden.“
Die Grünen haben zudem einen Antrag gestellt für ökologischen Hochwasserschutz. Eine aktuelle Kampagne soll Menschen, die in Hochwasserschutzgebieten bauen wollen, über die Risiken informieren. Auch Verbraucherverbände und Versicherer forderten hier mehr Aufklärung. Die Partei sieht eine große Eigenverantwortung bei den Bauherren, fordert aber auch Unterstützung durch die Solidaritätsgemeinschaft mit einer Elementarschaden-Pflichtversicherung. Auch der VerbraucherService Bayern plädiert für deren Einführung.
Die SPD will den Verbraucherschutz im Energiemarkt stärken und die Energiepreise näher unter die Lupe nehmen. „Unserer Fraktion ist es außerdem wichtig, in den Verbraucherschutz zu investieren“, erklärt Rasehorn. „Der VerbraucherService leistet in Bayern hervorragende Arbeit. Mit mehr Personal könnte man sehr viel mehr erreichen.“
Markus Saller von den Freien Wählern definiert das Aufgabengebiet für den Verbraucherschutz deutlich enger – nämlich auf Rechtsgeschäfte zwischen Verbraucher und Unternehmen –und bezieht sich dabei auf Paragraf 13, BGB. Hochwasserschutz und Trinkwasserschutz sind für ihn eher „Bürgerthemen“, die die Politik zu regeln hat.
Im Zivilrecht sei das Verbraucherschutzniveau „hervorragend“, so Saller. Im Blick behalten wollen die Freien Wähler aber „besonders gefährliche Verträge“ und Informationspflichten sowie „bestimmte Vertriebsmethoden, die uns nicht gefallen“.
Mehr Regulierung lehnt er ab, dies führe zu mehr Bürokratie, die aber abgebaut werden sollte. „Wir regulieren ohne zu vollziehen, ohne zu kontrollieren und zu sanktionieren. Regulierung macht keinen Sinn, wenn sie nicht eingehalten wird.“
Saller plädiert stattdessen dafür, die rechtlichen Werkzeuge, die bereits zur Verfügung stehen, besser zu nutzen und etwa Wettbewerbsverstöße zu sanktionieren und das Unterlassungsklagegesetz anzuwenden. „Hier sehe ich keinen Grund nachzuschärfen, sondern wir sollten das den Markt regulieren lassen.“
Mit ihren Klagebefugnissen sieht er Verbraucherverbände gut aufgestellt. Mehr Unterstützung benötige jedoch die Verbraucherbildung – insbesondere bei Angeboten für Erwachsene. „Wir müssen alle Verbraucherinnen und Verbraucher erreichen“, sagt Saller und hebt die „hervorragende Arbeit“ hervor, die u.a. der VerbraucherService Bayern im Bildungs- und Beratungsbereich leistet. „Wir brauchen Ihre Sensorik: Sie sind diejenigen, die erkennen, was schiefläuft und können dafür sorgen, dass entsprechend gegengesteuert wird.“
Aus diesem Grund fordert Anna Rasehorn, dass der Verbraucherschutz personell besser aufgestellt wird. „Es gibt gute Gesetze, aber zu wenige, die sie kontrollieren.“
Die Verbraucheraufklärung der Zukunft
Noch mehr Informationen führen irgendwann zu einer ablehnenden Haltung, weiß Eva Traupe. Die Art und Weise der Informationsvermittlung müsse überdacht werden - „nicht nur digital oder über Social Media.“ Viele Menschen in Bayern fahren über 100 Kilometer zu einer Verbraucherberatung. „Sie brauchen den persönlichen Kontakt. Auch das muss möglich sein“, so Traupe.
Markus Latta plädiert dafür die Initiative „Schule fürs Leben“ weiter auszubauen, um jungen Menschen Alltagskompetenzen noch besser zu vermitteln. „Es ist ein guter Anfang, reicht aber nicht aus.“
Für Anna Rasehorn hat insbesondere der Onlinemarkt „viele Schwachstellen“ und zu „wenig Regularien.“ Hier gehe es um mehr Schutz für Verbraucher, auch ohne mehr Bürokratie. „Der Markt allein regelt es nicht, deshalb brauchen wir Regularien“, ergänzt Laura Weber. Insbesondere im digitalen Bereich sei mehr Schutz nötig, um das Vertrauen der Menschen nicht zu verlieren.
Europawahl stellt neue Weichen für die Verbraucherpolitik
So unterschiedlich das Verbraucherbild ist, hier herrscht Einigkeit auf dem Podium: Bei der Europawahl am 9. Juni sollte jeder Wahlberechtigte seine Stimme abgeben. Auch für die Verbraucherpolitik werden wichtige Weichen gestellt. Dies ist den Verbrauchern bewusst, wie eine aktuelle Umfrage des Verbraucherschutz-Dachverbandes vzbv zeigt. Demnach ist die Mehrheit der Befragten davon überzeugt, dass Verbraucherschutz vor allem auf EU-Ebene stattfindet.
Die neue Verbraucheragenda der EU wird nach der Wahl verhandelt. Markus Saller, Freie Wähler, fordert eine Überprüfung, ob „die Idee der Informationspflicht noch zeitgemäß ist“. National sollte die Eigenverantwortung gestärkt werden. „Wer in China bestellt, muss sich auf die Risiken einlassen.“
Für Laura Weber ist das von der EU eingeführte „Recht auf Reparatur“ ein Schritt zu mehr „Nachhaltigkeit und Mündigkeit der Bürger“. Dies sollte auf weitere Produktgruppen ausgeweitet werden. Zudem fordern die Grünen eine Regulierung von Gentechnik und eine Kennzeichnungspflicht für Saatgut.
Die SPD macht sich für eine stärkere Regulierung des Onlinemarktes und von Dark Pattern stark. Dies sei in der EU einfacher. „Nur Deutschland kann großen Konzernen nicht den Kampf ansagen“, so Rasehorn.
Auch der VerbraucherService Bayern hat Wünsche an die EU. „Bei der digitalen Transformation dürfen wir die älteren Verbraucherinnen und Verbraucher nicht aus den Augen verlieren“, sagt Markus Latta. Der Verband sammelt deshalb aktuell Unterschriften gegen das Filialsterben von Sparkassen in ländlichen Regionen. „Die Wirtschaft sollte einen Gang zurückschalten und auch in der analogen Welt die Menschen mitnehmen, die nicht internetaffin sind.“